Gedanken

 

Tod einer Mutter mit zwei Kindern in der Enz

Wo waren wir?

 

„Mutter und zwei Kinder tot aus der Enz geborgen“ titelte die VKZ am 16. Mai. Wie es sich herausstellte, handelte es sich um eine mutmaßliche Tötung der beiden Kinder mit anschließendem Suizid der Mutter. Ein Drama, ein Ereignis, das sprachlos macht, zutiefst schockt und neben tiefster Trauer unendlich viele Fragen aufwirft. So ist es dann nur konsequent, dass bald an der Enzbrücke ein Plakat diese Fragen öffentlich stellte und neben „Und wo waren wir?“ auch sofort „- unsere sozialen Einrichtungen, unsere Kirchen und Sozialarbeiter, die diese Tat nicht verhindert haben? Wo bleiben die Integrationsbemühungen? Werden die Flüchtlinge in unserem Land wirklich genug unterstützt, um solche Dramen zu verhindern?“ Solche Fragen betreffen neben den angesprochenen offiziellen Institutionen auch uns, den Arbeitskreis Asyl Vaihingen an der Enz, denn dessen Selbstverständnis und gestelltes Ziel ist es ja, Integration möglich zu machen, zu erleichtern und schwere Krisen zu verhindern. Haben also alle versagt?

 

Zunächst ist es aus Sicht des AK Asyl wirklich erfreulich, dass aus der Bevölkerung zahlreiche spontane, ehrliche Reaktionen gekommen sind, die tiefes Mitgefühl und Trauer ausdrückten, noch erfreulicher aber, dass jede Art ablehnender, diffamierender oder rassistischer Art unterblieben ist. Es entspricht unserer bisherigen Erfahrungen. Aber dann bleiben die Fragen, die im Widerspruch dazu stehen. Die sozialen Einrichtungen, im Falle Vaihingens sind das die Integrationsbeauftragten und die Sozialarbeiterinnen des DRK, aber auch die Ehrenamtlichen des AK Asyl, arbeiten mit unglaublichem Einsatz und hohem persönlichen Engagement ohne Rücksicht auf die sehr erschwerten Bedingungen. Offensichtlich vergisst man bei solchen Gedanken einfach, dass die dringend notwendigen persönlichen Kontakte, Gespräche und z. B. Familienbesuche unter CORONA-Bedingungen einfach nicht möglich sind. Selbst unter besten Bedingungen ist es kaum zu leisten, bei der recht großen Zahl der Betreuten die alltäglichen Probleme wie annehmbare Wohnungsqualität, soziale Einbindung und materielle Versorgung, zufriedenstellend zu regeln. Wie soll man bei Menschen fremder Ethnie, anderer Kultur und tradierter Verhaltensweisen Sorgen, Beziehungskonflikte oder Trauer, Not und soziale Spannungen erkennen, wenn man weder die genügende Zeit hat noch von den Betroffenen Einsicht geboten bekommt? Es ist nicht für alle selbstverständlich, dass man seine Sorgen einem Fremden ausbreitet, dass man Familienprobleme bespricht und dann womöglich noch fremde Hilfe benötigt. Ein solches Verhalten braucht Zeit, sehr viel Zeit, Nähe und Vertrauen, unendlich viel Vertrauen und betrifft oft Fragen der persönlichen Ehre. Viele Männer und Väter verlieren z. B. ihre angestammte Rolle in der Familie, durchaus nicht immer zum Vorteil der Frauen. Aber sie werden sich nicht öffnen, anvertrauen und um Hilfe bitten.

 

Wenn das alles schon fast nicht zu leisten ist – aber immer wieder oder fast täglich geleistet wird – dann kommen noch weit gravierendere Probleme hinzu. Außenstehende können sich wohl nur bedingt vorstellen, unter welchen Traumata diese Menschen leiden. Niemand kann nachvollziehen, was die meisten auf ihrer Flucht erlebt und vor allem erlitten haben, was in den Gehirnen und der Psyche der Erwachsenen an tiefen Verletzungen erzeugt wurden, die jetzt – wo die materielle Not oft kein wesentliches Thema mehr ist – sich Bahn brechen. Post-traumatische-Belastungsstörungen (PTBS) sind in ihrer Schwere und unendlich fatalen Auswirkung vielen Betroffenen selber nicht bewusst, führen aber zu katastrophalen Verhaltensweisen. Wie sonst könnte eine Mutter, die eine sehr gute Bleibeperspektive hatte und deren Familienzusammenführung realistisch war, erst beide kleinen Kinder und dann sich selbst töten? Und wie sollen das die Sozialarbeiterinnen, Integrationsbeauftragten und Ämter erkennen? Bis jetzt war hier die Rede von Erwachsenen – was Kinder gesehen, erlebt und erlitten haben, übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen. Und außerdem war bisher die Rede von Offiziellen, von Personen, die sich von Berufs wegen damit beschäftigen, ausgebildet sind. Aber der AK Asyl besteht ausschließlich aus ehrenamtlich Tätigen ohne qualifizierte Vorbereitung und Hinführung, auch ohne jede Entlohnung. Die MitarbeiterInnen haben nur ihre Lebenserfahrung und ihr grenzenloses Engagement, um solche Probleme zu verkraften. Aber sie sind da, arbeiten individuell mit den Flüchtlingen, sind in engem Kontakt, in den Familien – soweit dies in Corona-Zeiten möglich ist. Der äußerst tragische Fall der eritreischen Familie ist einer, ein erschütternder, der zeigt, wie es sich auswirken kann, wenn dieser Kontakt nicht zustande kommen kann, wenn er sogar abgelehnt wird. Aber es gibt leider unzählige davon. Wo waren also alle diese Leute? Sie waren da, sie haben ihre Aufgabe ernst genommen und erledigt.

 

Wir brauchen bessere Unterkünfte? Ja, sie werden gebraucht, zweifelsohne. Aber woher nehmen? Warum werden leerstehende Wohnungen nicht an Flüchtlinge vermietet? Wer beherbergt sie? Warum löst die bloße Ankündigung, dass ein Haus neben einem Industriegebäude in einem Vaihinger Vorort mit Flüchtlingen belegt werden soll, Entrüstungsstürme mit bösen Verbalangriffen und übelsten Unterstellungen aus? Und innerhalb der Ortschaften läuft die Integration wirklich automatisch? Da haben wir leider auch andere Erfahrungen gemacht, die Isolation wird auch durch Gespräche über den „Gartenzaun“ nur selten aufgehoben. Die Flüchtlinge brauchen unbedingt psychotherapeutische Unterstützung? Ja, ja, nochmals ja – dringendst. Sonst laufen wir in eine nicht mehr einschätzbare Gefahrensituation. Aber wo kommen die Therapeuten her? Wie viele von denen – wenn sie dann da wären – sprechen Farsi, Pashtun, Arabisch, kennen die Ethnien und politischen Verhältnisse aus Nigeria, dem Irak, Sudan, Afghanistan, Syrien oder Eritrea? Ohne das geht es leider nicht. Und welche Kommune kann unter allgemeiner Zustimmung der Bevölkerung erheblich größere Summen für eine bessere Aufnahme und Integration der Menschen auf der Flucht aus dem Stadthaushalt bereitstellen? Wo waren die Kirchen? Sie bieten von tatkräftiger Hilfe, Veranstaltungen, über Gesprächsangeboten, geistlicher (ja, nicht alle sind Moslems) und moralischer Unterstützung bis hin zum Kirchenasyl vieles an. Und dank der evangelischen Kirche konnte ein neues Seenotrettungsschiff die Arbeit aufnehmen und schon beim ersten Einsatz 450 Menschen retten gemäß dem Bekenntnis von Bischof Betford-Strohm „Man lässt keine Menschen ertrinken. Basta.“ Auch sie waren da. Aber alles ist nicht immer genug – und wird es auch bleiben.

 

Bleibt die Frage: Wo waren wir? Die kann sich nur jeder selber beantworten und vielleicht für die Zukunft die positive Antwort finden: Ich war da, ich habe mein Möglichstes versucht – mehr geht nicht. Aber mehr als das Mögliche ist auch nicht notwendig.

 

 

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